Sind Archive zu mächtig?

Seit einiger Zeit ist ein Trend in Verwaltungsarchiven zu sehen. Neben den klassischen Aufgaben des Archivs wird die Beratung im «Vor-Archivischen» Bereich ausgebaut. Diese Kompetenzerweiterung umfasst nicht nur Unterstützung in der Bestimmung der Archivwürdigkeit, der Ablieferungsvorbereitung, sondern ganz generell zu Aktenführung bzw. Records Management. Dazu gehören Effizienz versprechende Schulungen für Führungskräfte, ein Idealprofil für Aktenführungsverantwortliche oder Gesetze, welche die Zugriffe der Archivmitarbeitenden auf die aktive Ablage weiter als benötigt ausweiten und damit das Need-to-Know Prinzip verletzen.

Die Herausforderung bei diesen Beratungs- und Bildungsangeboten liegt darin, dass Records Management weit mehr als nur die Ablieferung umfasst. Teilweise ist ein klarer Unterton von Records Management als Vorbereitungsarbeiten in der aktiven Phase für die spätere Archivierung zu erkennen. Diese Tendenz widerspricht klar der allgemeinen Lehrmeinung:  «Aktenführung ist nicht gleich prospektive Archivierung». Die Archivierung ist nur eine von mehreren rechtlichen Bestimmungen. Was eigentlich klar sein sollte, wenn bedacht wird, dass auch private Institutionen ohne unbefristete Archive Records Manager beschäftigen.

Der Unterton der archivischen Records Management Beratung kann auch in der Struktur des Vereins Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA-AAS) erkannt werden. Die beiden Themenfelder Records Management und Digitale Archivierung werden in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe behandelt, in deren Zentrum «[…] stehen der Umgang mit und die Organisation von digitalen Informationen von der Entstehung bis zur Nutzung im Archiv.» Oder im kommenden Standard Records in Context (RiC) des International Council on Archives (ICA), welcher im Vorwort der Version 1 erwähnte: «RiC is also intended to be of interest to the records management community».

Grundsätzlich ist es nichts Negatives, dass sich Archive klar positionieren und ihre Ansprechpersonen besser sichtbar werden. Die Verantwortlichen für den Datenschutz sind ähnlich präsent und setzen ihre Kernkompetenz in den Fokus. Ein wichtiger Unterschied liegt jedoch in der Positionierung der Angebote. In einer Datenschutzschulung lernen die Teilnehmenden etwas zum Datenschutz. In einer Informationsmanagementschulung lernen die Teilnehmenden oft, wie sie Unterlagen auf die Semi- und inaktive Phase vorbereiten. Jedoch nur wenig darüber, wie sie Informationen optimaler in der aktiven Phase managen.

Vielleicht sind die Organisationseinheiten auch einfach selbst schuld. Wer die Fachverantwortung für Records Management hierarchisch tief unten ansiedelt und vielleicht noch der Logistik unterstellt, muss sich auch nicht wundern, wenn organisationsweite Aufbewahrungsvorschriften nicht beachtet werden. Es fehlt schlicht die benötigte Macht und Ressourcen zur Durchsetzung. In solchen Fällen ist Druck durch das Archiv durchaus angebracht.

In Verwaltungen arbeiten viele kluge Köpfe, doch die wenigsten wünschen sich einen Job, in welchem sie sich in erster Linie mit dem Ablegen von Unterlagen beschäftigen. So wird beispielsweise viel über die Aufgabentrennung von Archiv, Records Management in der aktiven Phase und den inhaltlich federführenden Stellen diskutiert. Üblicherweise enthalten Organisationsvorschriften oder Ablaufbeschreibungen zur fachlichen Dossiersbereinigung Punkte wie das Löschen von Doubletten. Eine verständliche Forderung, jedoch praktisch oft nur äusserst umständlich umzusetzen, da die in öffentlichen Verwaltungen verbreitet eingesetzten Anwendungen auf der Userseite keine Funktionalitäten wie den automatischen Abgleich von Hashwerten zur Verfügung stellen. Darüber hinaus können sich alle Beteiligte in Definitionsdiskussionen um den Begriff Doublette und Ablage von E-Mails verlieren. Zu den Klassikern gehören: Können ältere E-Mails storniert werden, wenn die Antwort registriert wird? Reichen die Metadaten in der Antwort über den Vorgänger aus, um die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten? Wenn wir den Inhalt eines Dokuments im Rahmen eines längeren E-Mail Austausches jeweils ersetzen, werden die Metadaten wie Registrierdatum damit verfälscht?

Anderes Beispiel ist der Einsatz von Ordnungssystemen. Diese sind heute üblicherweise nach den Aufgaben einer Verwaltungseinheit aufgebaut, je nach verfolgter Theorie auch Prozess- oder Produktorientiert. Das Staatsarchiv St. Gallen bezeichnet im «Leitfaden zur Erstellung eines Ordnungssystems» die Datenschutzstufe als eines der wichtigsten Metadatenfelder, gemeinsam mit der Aufbewahrungsfrist und der Archivwürdigkeit. Viele Archive würden hier wohl zustimmen. Jedoch die vererbbare Aufbewahrungsfrist auf der Ebene Ordnungssystem bringt im Alltag Probleme mit sich. Für Archive reichen üblicherweise eine oder zwei Fristen pro Dossier aus. Aus diesem Grund bieten die Anwendungen zur Dossierführung auch diese Fristen an und selten mehr. Komplexe Geschäfte in reguliertem Umfeld weisen oft mehrere und unterschiedliche Fristen für verschiedene geschäftsrelevante Unterlagen auf. Und die zugehörigen Trigger (Auslöser einer Frist) können nicht durch ein Ordnungssystem vererbt werden, sondern hängen vom Dokumententyp ab. Hier wurden die Verwaltungen klar von der Privatwirtschaft abgehängt, welche die Aussonderung stärker vom Dokumententyp im Sinne der «Big Bucket» Theorie und nicht von der zugehörigen Ordnungsposition abhängig machen. Damit kommen wir zum klassischen Dilemma: Dokumententyp basierte Vorgänge sind besser im Löschen, die klassisch durch Ordnungssysteme gesteuerten Verwaltungen finden dafür ihre Unterlagen besser. Isoliert sind beide Ansätze nicht zielführend.

Stellt sich die Frage: Sind Archive in der Verwaltung zu mächtig? Verhindern sie neue, effiziente Arbeitsweisen aus unbegründeter (?) Angst vor Überlieferungslücken und Einflussverlust? Sie lässt sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten, sondern liegt wahrscheinlich bei einem überzeugten «Jein». Wie stets, wäre es zu kurz gedacht nur die Tätigkeiten zu beurteilen. Für jede Organisation einzeln ist zu bestimmen, warum das zuständige Archiv sich stärker «einmischt». Dies kann von einer Vernachlässigung der Anbietepflicht durch die Organisationseinheiten, fehlendem Controlling des Stabs oder auch einfach einer Überschätzung der archivischen Kompetenzen ausgelöst werden. Wichtig für alle Verwaltungen sollte aber sein: Records Management ist eine Stakeholder unabhängige Stelle mit Kompromissbereitschaft. Genauso wenig wie ich mir mehr Archivdenken in der aktiven Lebensphase wünsche, sehe ich auch keine Vorteile in der Vernachlässigung von Transparenz und überprüfbarem Verwaltungshandeln. Es ist Aufgabe der Records Management Verantwortlichen die richtige Balance zu finden, teilweise auch mit Mehraufwand für die Archive.

Dominik Sievi

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