«Kluge Menschen haben in dummen Organisationen keine Chance.» (R. Sprenger)
Die Changetagung 2020 in Basel (Leitung Olaf Geramanis und Team FHNW) durfte eine neue Rekordteilnehmerzahl verzeichnen. Knapp 400 Teilnehmende aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Russland trafen sich im Kollegienhaus Basel um sich intensiv mit dem Thema «Der Mensch in der Selbstorganisation“ auseinander zu setzen.
Sieben Keynotes, zehn Panels, vier Diskursräume, 30 Workshops, ein Vorkongress – das war die Changetagung 2020.
Das Angebot war sehr breit gefächert. Von Themen wie die Selbstorganisation in der «organisierten Kriminalität», über die Selbstorganisation in agilen Unternehmen bis hin zu angewandtem Improvisationstheater in der Entwicklung sozialer Kompetenzen, es war von allem etwas dabei. Bereits am Mittwoch vor der Tagung wurden einige Teilnehmende im Rahmen des Vorkongresses über ein selbstorganisiertes Experiment an das Thema herangeführt.
Der vorliegende Beitrag fokussiert auf ein paar Highlights bei den Key-Notes und Workshops. Die Fülle der Beiträge verunmöglicht eine umfassende Darstellung aus einer Einzelperspektive. Wer sich für weiterführende Unterlagen und Informationen interessiert konsultiere den Tagungsband und andere Unterlagen (vgl. die Angaben am Schluss des Artikels).
Es versteht sich von selbst, dass die Thematik unter dem gegenwärtigen Diktat der digitalen Transformation steht; d.h. in vielen Beiträgen schwingt im Kontext von Selbstorganisation ein Anteil von digitalen Kompetenzen mit, die implizit vorausgesetzt werden :
Der erste Keynote von Frau Prof. Dr. Larissa Krainer von der Universität Klagenfurt unter dem selbstredenden Titel «Organisation der Selbstorganisation» machte bereits klar, dass jedes Projekt und Initiative ohne Selbstorganisation nicht denkbar ist, aber auch einen hohen Organisationsgrad braucht, um erfolgreich zu sein. Anhand von 17 Thesen und zwei Use Cases (a. Universität Klagenfurt, Educational Lab und b. Mediation im Streit um den Flughafen Wien Schwechat) konnte Frau Krainer sehr überzeugend anhand der reichen Praxiserfahrung darlegen wie sich die beiden Organisationsformen bedingen, entscheidend ist jedoch immer die Erkenntnis (These 4), dass sich Selbstorganisation nicht verordnen lässt. Je höher der Selbststeuerungsgrad desto höher die Motivation, ein Phänomen, das wir nicht nur aus der Netzwerktheorie kennen, sondern auch von diversen Protestbewegungen und NGOs. Im Use Case a. des Educational Lab ging es um die Organisation und Steuerung von selbständig agierenden Bildungsinitiativen (Module) mit unterschiedlichen Programmen und Aktivitäten; flankiert wird das Projekt von einer Begleitforschung (2017-2021). Die Herausforderung besteht in der Steuerung (Governance) einer Systemlandschaft aus vielen Stakeholdern (Trägerorganisationen und involvierte Gruppen und Personen wie Studierende, Eltern, Lehrer etc.) und die effiziente Umsetzung der Ziele des Edu Lab durch eine adäquate Projektstruktur. Fazit: durch die hohe Selbststeuerung/-organisation der Module entwickelt sich das Edu Lab kontinuierlich selbständig weiter. Bedingung ist ein hohes Interesse aller Beteiligten/Betroffenen (These 5) und ihre Bereitschaft zur Mitwirkung (These 6).
Im Use Case b. ging es um ein Riesenprojekt, um das europaweit größte Mediationsverfahren um den Flughafen Wien-Schwechat, das 2005 nach fünf Jahren intensiver Arbeit erfolgreich mit einem Mediationsvertrag abgeschlossen wurde. Um eine Vorstellung der Aufgabendimensionen einer (Selbst-)Organisation zu vermitteln: unter der Leitung von drei MediatorInnen und einem Prozessprovider mussten folgende Stakeholder auf ein Ziel hin koordiniert und gesteuert werden:
Vertreterinnen und Vertreter: Summe = 57 Parteien, 66 Personen
12 Anrainergemeinden | 3 Gruppierungen von Seiten des Flugbetriebs | 8 Kammern (Verbände, Interessenvertretungen) |
Nationalpark Donau Auen | 6 Bezirksvertretungen (Wien) | 2 Bundesländer (Wien, NÖ) |
3 Siedlervereine | 12 Bürgerinitiativen | 8 politische Parteien |
2 Umweltanwaltschaften |
Das gesamte Verfahren musste in einer langen Vorbereitungsphase (6 Monate) aufgegleist werden und v.a. auf Entscheidungstauglichkeit geprüft werden. Im Laufe einer starken und dramatischen Komplexitätssteigerung der Prozesse («catching the beast») schälten sich verschiedene Erkenntnisse heraus: partizipative Entscheidungsverfahren sind nicht immer das erste Mittel der Wahl (These 7); partizipative Entscheidungsverfahren benötigen eine sorgfältige Vorbereitung, schon bevor es sie überhaupt gibt (These 8). Die Ansprüche an die Governance waren immens (hohe Sozialkompetenz in einer Selbstorganisation bedingt ein gutes Selbstmanagement – Markus Sulzberger im Tagungsband) und gingen Hand in Hand mit einer transparenten Organisation der Informationsbasis (Information Governance) auf diversen Plattformen. Dabei spielt die formelle und informelle Kommunikation eine Schlüsselrolle (Thesen 12 & 13). Es gibt Rückkoppelungen durch die informelle Kommunikation in der es gilt permanent die Balance zu halten zwischen Stabilisierung und Erneuerung (These 14). Schliesslich bleiben als Fazit die Thesen 15-17:
In beiden Beispielen (use cases) wurde deutlich, dass Strukturen und Verfahren in der Selbstorganisation wiederum neue Konflikte und Strukturen erzeugen. Klar wurde auch dass strukturell, kulturell, kommunikativ und informell ein bedingt partizipativ verfasstes organisationales ÖKO-System in jedem Fall einem EGO-System mit selbstherrlichen Führungsansprüchen überlegen ist. Der sehr spannende Beitrag von Frau Krainer wurde hier etwas ausführlicher beschrieben, weil er im Tagungsband nicht enthalten ist. Im Tagungsband fehlt ebenso die dritte Keynote von Frau Dr. Lisa Herzog (Universität Groningen): «Die Rettung der Arbeit». Ich verzichte hier auf eine detaillierte Darstellung; im Wesentlichen ging es in Anlehnung an Habermas um eine systemtheoretische Sicht auf die «Gefahr der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System (u.a. durch die Digitalisierung und die Techgiganten)» und die Frage mit welchen Herausforderungen in komplexen arbeitsteiligen Organisationen wir es zu tun bekommen. Die Selbstorganisation tauchte hier am Rand im Sinne der Verantwortung des Einzelnen für kooperative Arbeitsformen auf.
Gespannt war das Publikum auf den zweiten Keynote von Prof. Dr. Markus Pohlmann von der Universität Heidelberg zum Thema: «Selbstorganisation und organisationale Kriminalität».
Pohlmann vermittelte drei Hauptbotschaften und unterlegte diese mit diversen Beispielen aus der Praxis:
In Punkt 1. geht es um die unproblematische «Welt der kleinen Sünder». Sie gehört zum Alltag und hat sogar die Funktion die Organisation am Laufen zu halten. Daran werde auch die «zero tolerance» der Verhaltensprävention nichts ändern. Diese werde zur Zeit in der Compliance zu weit getrieben, sodass automatisch entsprechende Umgehungsstrategien entwickelt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein empirisches Beispiel eines Physikers der herausgefunden hat, dass bereits «Trampelpfade» entstehen, wenn das Wegenetz einen Umweg von mehr als 20-30% verlangt.
Die Vorstellung durch Moral und Erziehung zur Sozialisation beizutragen mache die Rechnung in der Regel ohne den Wirt. Die eigentliche Sozialisationskraft liege in den operativen Geschäftsfeldern wo die Musik spielt und nicht in Stäben oder Querschnittsabteilungen. Compliance-Regeln vermögen nicht viel, wenn wir die selbstorganisierte Informalität auf der Hinterbühne der Organisation nicht erreichen können.
Es geht also um eine Verhältnisprävention und um die Grenzen von Organisationsstrukturen, von denen wir wissen, dass sie der Entstehung selbstorganisierter (Klein-)Kriminalität förderlich sind. Eine Vielzahl von Studien habe belegt, dass nur wenige die rote Linie zu grossangelegtem Betrug und Korruption überschreiten wie etwa im Fall von Volkswagen (Dieselskandal). Der Referent präsentiert hie auch Ansätze zur Erklärung organisationaler Devianz (Marktdruck, hierarchischer Druck, Rationalisierung, Sozialisation) sowie Mechanismen der Institutionalisierung von Korruption und Korruptionsbereitschaft. Bei VW entstand eine Subkultur, in der aktiv tätiges und passiv duldendes Verhalten eine Verbindung eingingen, bei der aber persönliche Bereicherung kein Motivationsgrund war.
Kultur von Volkswagen im Urteil der US-Richter:
Der Referent wies in diesem Fall VW auf das Problem der fehlenden «internen Korrektive» bis auf Stufe VR hin, weil alle Involvierten Teil einer Seilschaft («inner circle») waren und die internen Spielregeln kannten bis der Betrug aufflog.
Pohlmann schlug im Fazit als Therapie vor, dass Unternehmen über ihre Karriere- und Arbeitssysteme nachdenken, um sie so zu verändern, dass weniger Kriminalitätsrisiken von diesen ausgehen (so ist zB bekannt, dass «Insider» präferiert werden.
Der implizite Zynismus in dieser Skandalthematik übertrug sich zuweilen auf die Diktion des Referenten (kynisches Gelächter) und sorgte für überraschende Heiterkeitsmomente trotz den unheilschwangeren Inhalten und Botschaften, die vermittelt wurden und Gegenstand von vielen soziologischen Studien sind. Compliance – zuweilen als Kosmetik – kann auch lustig sein.
Der zweite Tag – er wurde von einigen Teilnehmern subjektiv als ergiebiger empfunden – startete mit einem hervorragenden und anregenden Vortrag von Dr. Petra Künkel vom Collective Leadership Institute Potsdam. Titel: Sinn und das Management – Ein Beitrag zur ko-kreativen Zukunftsgestaltung.
Unter Betonung der Bedeutung von regenerativen Systemen für eine nachhaltige Zukunft (für Mensch und Natur gebe es nur ein Miteinander) wurde die Forderung aufgestellt, es brauche strategische Veränderungen auf Basis von Denken in globalen Kontexten und sinnhaften, konkreten Handlungen. Der Fokus müsse dabei auf transparenten Dialog und Kooperationsfähigkeit gelegt werden (Simon Sinek lässt grüssen: «Better together»). Die Referentin legte dabei einen Schwerpunkt auf die Veränderung von Führungskonzepten ohne die der angestrebte Wandel nicht zu schaffen sei. Sie präsentierte dazu einen «Kompass für kollektive Führung zur Stärkung der Selbstorganisation». Damit wird eine Methodologie/Tool geliefert, um Bedingungen für funktionierende Selbstorganisation (SO) in Teams herzustellen. In einem Anwendungsbeispiel des Kompasses wurde abschliessend illustriert, dass
Das ultimative Highlight wurde von Olaf Geramanis subtil anmoderiert mit dem Hinweis auf die Schwierigkeit den Referenten – Gerhard Wohland – überhaupt für einen Vortrag gewonnen zu haben. Nun er hatte es geschafft und der Physiker und Leiter des Instituts für dynamikrobuste Organisation, Stuttgart und Mainz, startete ohne Powerpoint sein fulminantes Plädoyer gegen den Management Mainstream: Unternehmensentwicklung in Zeiten hoher Dynamik. Vom «Wie?» zum «Wer?»
Die Kernbotschaft dreht sich um die Dynamik heutiger Wirtschaft, die Manager und Berater gleichermassen überfordert. Nur noch die sozialen Systeme erfolgreicher Unternehmen seien inzwischen robust genug Wege in die Zukunft zu finden. Es sei deshalb sinnlos geworden Unternehmen zu belehren. «Beratung ist die Akzeptanz unlösbarer Probleme». Es gelte sie einfach aktiv zu beobachten um ihre Überlebenskompetenz zu verstehen. Erst dann sei intelligente Zuarbeit möglich. Wie ein Gärtner, der erst dann die Entwicklung einer Pflanze fördern könne, wenn er Möglichkeiten und Grenzen ihrer Überlebenskompetenz verstehe.
Die Grafik zeigt den groben historischen Verlauf der Marktdynamik und die jeweils dominierenden Produktionstypen seit dem 19. Jahrhundert. Im Post-Taylorismus stoßen die meisten Märkte an ihre globale Grenze. Das Wachstum in der Fläche ist abrupt zu Ende. Erneut wird es eng und dynamisch. In Japan sind die verlorenen Tugenden der Manufaktur noch lebendig. Dort entsteht die neue Wertschöpfung. Als erstes Unternehmen verband Toyota die Flexibilität der Manufaktur mit der Kostenorientierung des Taylorismus zu einer dynamikrobusten Massenfertigung. Sie passt perfekt zur Dynamik moderner Massenmärkte. Heute gibt es diese neuen Höchstleister überall auf der Welt. Sie sind immer noch die Minderheit. Sie erzeugen aber den Marktdruck für die tayloristischen Nachzügler. Diese beschränken ihre Anstrengungen stur auf Methoden, Prozesse und Kosten und verschwenden damit die Innovationskraft ihrer Talente. Mit Höchstleistern als Vorbild ließe sich das ändern.
New Work – die romantische Sackgasse: Wohland meint es gebe Unternehmen und Organisationen, die sich jedem Gestaltungswillen in Bezug auf Effizienz entziehen. Es existiere ein diffuses «WIR» (Klapperbegriff) und Menschenbilder als Ausdruck von Hilflosigkeit. Unter dem Label «New Work» gebe es Strömungen, die die Überzeugung enthalten, Taylorismus sei «böse» und inhuman und müsse deswegen überwunden werden. Holacracy, Scrum oder agile Methoden seien auch konservativ-romantische Ansätze, wo es um die Frage gehe «Wie läuft es richtig?» und nicht um die Frage «Wer kann das?». Entscheidend sei der Schritt vom «Wie?» zum «Wer?». Ein Unternehmen sei nur dann dynamikrobust (resilient), wenn es auf überraschende Probleme mit Ideen reagieren könne. Und zwar so schnell und intelligent, dass es überlebensfähig bleibe. Diese Fähigkeit könne nicht mehr durch Methoden oder BWL erzeugt werden, sondern nur durch Talente, die die Entwicklung einer Organisation provozieren können. Dieser Ansatz erinnert an das Werk von John Seely Brown und John Hagel «The power of pull» (2010) wo es wesentlich um die Frage geht, wie Talente angezogen werden um akute Probleme innovativ zu lösen («How small moves, smartly made, can set big things in motion»).
In Bezug auf die Selbstorganisation meint Wohland, dass sie den Menschen eigentlich ausschliesse, weil sie den kausalen Einfluss einer Umgebung ausschliesse. Die Panik zum Beispiel sei ein selbstorganisiertes System. Es operiere gegen die Interessen derer, die es als Umgebung erzeugt haben. Die oben erwähnten Beispiele betr. selbstorganisierter Devianz und Kriminalität (Pohlmann) in Form von Tricksereien und Schummeleien bestätigen diese These.
Die Präsentation von G. Wohland war allein durch seine Authentizität ein wohltuender, wenn auch in einigen Punkten sehr umstrittener Kontrapunkt zu den üblichen Wohlfühlthemen wie Agilität oder Netzwerkeuphorie im Sinne von kollektiven oder konstruierten Konzepten. Aus meiner Sicht liegt die Lösung in der Mitte zwischen einer Kultur kruder Effizienz und Marktlogik («deliver the numbers or die») und wirtschaftsethisch vertretbarer Praxis wo die Humanfaktoren nicht zu kurz kommen (Relevanz des EQ). Arbeit sollte ja auch noch Sinn und Spass machen können, wenn auch die Dynamik von Disruptionen im VUCA-Sturm (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) ohne Zweifel ihre (Burnout-) Opfer hinterlassen.
Workshops und Panels:
Wie immer gab es zahlreiche Workshops und Panels wo man die Qual der Wahl hatte (man vgl. die Übersicht der Sessions: http://www.changetagung.ch/review-1/2020
Es gab leider Sessions, die aufgrund der räumlichen Workshop Organisation (Setup) inakzeptabel waren! (zu viele Leute auf zu engem Raum verunmöglichen ein Verständnis der Vermittlung; Workshop 4 Simon, Schmalzridt, Hess, Baudis, Schaffron: Selbstorganisation. Steuern oder Driften?) Hier müssen sich die Organisatoren etwas einfallen lassen in Form von geeigneteren Räumen für Break-Out Sessions bei hohem Andrang.
Aus meiner Sicht kann ich zwei Workshops lobend hervorheben: Workshop 12: Andrea Kleinhuber / Andreas Greve: Professionell im Trüben fischen – Kulturentwicklung in instabilen Zeiten
Dieser Workshop beleuchtete theoretische und praktische Aspekte von Kulturentwicklung in Organisationen. Organisationskultur wird nicht nur als entscheidend für den Erfolg von Veränderungsvorhaben betrachtet, sondern auch als kritischen organisationalen Resilienzfaktor angesichts zunehmender Instabilität, eingeschränkter Planbarkeit und dem Druck zur Bewältigung stetiger Veränderungserfordernisse.
Am Beispiel der geplanten und in der Abstimmung gescheiterten Fusion zwischen dem Universitätsspital Basel (USB) und den Spitälern des Kantons Basel-Landschaft (Projekt Universitätsspital Nordwest (USNW) – ein System mit vier Standorten) wurden folgende Fragestellungen erörtert: Wie kann Organisationskultur verstanden, erfasst und gestaltet werden? Welche Rolle spielt dabei die Selbstorganisation? Und welche Chancen und Herausforderungen sind verbunden mit beteiligungsorientierter Kulturentwicklung?
Aus der Perspektive einer organisations-internen Beraterin (Andrea Kleinhuber (HR USB) und der eines externen Beraters (Andreas Greve) wurden die relevanten Aspekte präsentiert und anschliessend im Workshop diskutiert . Die Firma von Greve (nextpractice) ist bekannt durch den legendären, leider 2015 verstorbenen Peter Kruse. Was mich am meisten beeindruckte, war die Methode der Kulturanalyse durch den externen Berater. Die Interviews und Analysen gehen nicht vom SOLL-Zustand aus, sondern orientieren sich an den praktischen Betriebsbedingungen der Betroffenen. Es gibt keine Fragebogen aus der Sicht von aussen, sondern die Fragen basieren auf einer Ontologie der Befragten. Die Methode geht von der These aus, dass Kultur nur sehr schwierig aktiv vermittelt und verändert werden kann («Hinterbühne der Organisation»), sondern immer ein Resultat ist aus gewissen Aktivitäten, deren Signale man verstehen muss. Fazit: der konkrete Nutzen einer Kulturanalyse ist beschränkt, aber sie kann helfen die Veränderungsrichtung zu bestimmen, die anzustrebende Integrationstiefe zu bestimmen sowie Grundlagen zu schaffen für die Gestaltung des gemeinsamen kulturellen Entwicklungsprozesses. Nicht zuletzt kann auch geklärt werden, wo es tatsächlich Veränderung auf der Ebene Einstellungen und Werte braucht bzw. wo Verhalten durch die Gestaltung der Rahmenbedingungen beeinflusst werden kann und sollte?
Der zweite Workshop (Panel 3) mit Prof. Dr. Ulrich Lenz: Untergang oder neue Gestaltungsmöglichkeiten von Selbstorganisation in der VUCA-Welt und mit Joris Wachter: Sensemaking in selbstorganisierten Produktentwicklungsteams, behandelte implizite Governance Themen durch Unterstützung von KI oder Tools.
Prof. Dr. Ulrich Lenz von der Hochschule für angewandte Wissenschaften, Ismaning b. München, befasste sich mit den Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning im Kontext der Selbstorganisation. Aufgrund der zunehmenden Qualität von KI-Methoden gibt es einen Übergang von einer engeren ANI (artificial narrow intelligence), die sich nur auf ein kleines Fachgebiet beschränkte (zB Schachspiel) hin zu einer allgemeineren Intelligenz (AGI, artificial general intelligence), die in der Lage sei individuelles menschliches Verhalten zu beobachten um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und autonome Handlungen vorzunehmen. Selbstorganisation bedeute in diesem Zusammenhang die Hoheit über die eigenen Daten und einen Schritt in Richtung technologische Singularität (Kurzweil). Der Referent betonte basierend auf Literaturanalysen, dass es einen zunehmenden Wettbewerb zwischen KI und menschlicher Intelligenz geben werde. Der folgenden Einschätzung ist zuzustimmen: «Verschiedene Szenarien zeigen, dass der Preis für erweiterte Formen der Selbstorganisation dadurch zu bezahlen ist, dass Steuerbarkeit und implizite Entscheidungsbeeinflussung zunehmen» (Tagungsband S.329).
Interessant war der Hinweis aus der Deloitte Studie zum Thema Top Herausforderungen betr. Implementation von KI, dass als Haupthindernis die Integration von KI in bestehende Prozesse und Projekte genannt wurde (Problem der Operationalisierung von KI) (47% der Befragten).
Allerdings blieben in diesem Panel die Möglichkeiten von semantischen Technologien unerwähnt. Sie bilden inzwischen einen wichtigen impliziten Anteil von KI, indem durch maschinelles Lernen ganz spezifische Kontexte mit ihrer konkreten Bedeutung durch Ontologien, Taxonomien und natürliche Sprache intelligent abgebildet und entsprechend genutzt werden können (durch sog. Knowledge Graphen). Im Informationsmanagement können dadurch zB Aufbewahrungs- und Vernichtungsentscheide automatisch unterstützt werden oder in Data Analytics werden Entscheidungsmuster erkannt und genutzt. Sogar Sozialwissenschafter sind davon begeistert (John Searle hat zB eine Ontologie sozialer Tatsachen entwickelt um die Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit besser zu verstehen).
Neben den erwähnten Beiträgen gab es noch weitere, die sich mit der Selbstorganisation in komplexen digitalen Arbeitswelten befassten (vgl. v.a. Thiemann, Müller, Kozica, Tagungsband s.337-350). Es ist natürlich das Hype-Thema der Stunde.
Ganz allgemein kann zum Schluss angemerkt werden, dass wohl die changetagung.ch betr. Teilnehmerzahl langsam an ihre Grenzen stösst. Es würde dem Tagungsdesign gut tun weiterhin im bewährten Umfang ohne Skalierungspläne ganz nachhaltig weiterzumachen; dann bleibt es das Konferenzjuwel wie wir es kennen; es ist inzwischen ein Selbstläufer geworden, das keine grosses Marketing braucht. Leider war das Presseecho praktisch null, weil es niemanden gibt, der sich um eine Pressearbeit kümmern würde. Das Networking bildet aber einen wichtigen Teil. Auch 2020 gab es schliesslich am Netzwerkabend im Hotel Drei Könige viele Gelegenheiten sich mit einem Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu vernetzen. 2022 wird die nächste Changetagung stattfinden.
Der sorgfältig redigierte Tagungsband erschien wie immer im Springer Gabler Verlag unter der Aegide der SGO: Ein besonderes Verdienst gebührt hier Markus Sulzberger, der neben der Abfassung des Geleitworts wie immer unermüdlich im Hintergrund am rechtzeitigen Zustandekommen des Bands gewirkt hat!
Geramanis O. – Hutmacher S. (Hrsg.): Der Mensch in der Selbstorganisation. Kooperationskonzepte für eine dynamische Arbeitswelt (Wiesbaden 2020, 412 S.) mit einem Geleitwort der SGO, ISBN 978-3-658-27047-6
Links:
http://www.changetagung.ch/review-1/2020
Audioaufzeichnungen und Präsentationen der Keynote-Vorträge können unter folgendem Kontakt bestellt werden:
www.carpe-diem.at mail: carpe-diem@sbg.at
1 Comment
Ein sehr substanzieller, umfassender Bericht von der changetagung_2020. Besonders erfreulich: Die kritische Reflexion, die zusätzliche Aspekte in die Diskussion einbringt. Eine sehr wohltuende Differenzierung gegenüber dem unreflektierten Digitalisierungs-New Work-Agilitäts-Hype.