«Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu»
(Ödön von Horvarth, deutsch-ungarischer Schriftsteller, 1901 – 1938)
Die inzwischen bekannte und beliebte Changetagung.ch in Basel (Leitung Olaf Geramanis und Team FHNW) fand zum sechsten Mal statt und bot eine breite Palette an Präsentationen unter dem Tagungsthema «Identität in der modernen Arbeitswelt – Zugehörigkeit – Netzwerke – Führung». Der vorliegende Beitrag versteht sich nicht als integrale Zusammenfassung, sondern wirft ein paar Streiflichter auf bestimmte Aspekte der Tagung. Die Fülle der Beiträge verunmöglicht eine umfassende Darstellung aus einer Einzelperspektive.
Im Spannungsfeld zwischen dem Diktat der digitalen Transformation, die mit einer gewissen Entpersönlichung einhergeht und der zunehmenden Individualisierung standen für mich ein paar der folgenden Fragen im Vordergrund:
Der erste Keynote einer Sozialanthropologin (Prof. Joanna Pfaff-Czarnecka, Bielefeld) machte schon klar wie relevant die Kategorie «Zugehörigkeit» trotz allen Disruptionen in der Welt des sozialen Betriebs immer noch ist. Nach wie vor ziehen Organisationen grossen Nutzen daraus, dass die darin Beschäftigten sich sowohl mit der Firma als auch mit dem Produkt identifizieren und sich auch als Teil des Ganzen sehen. Die Referentin hob hervor, dass eine verbindliche Zugehörigkeit zu einem «Wir» nicht Folge, sondern Voraussetzung für gute Führung ist. Führung kann die Bindekräfte, die eine professionelle Gemeinschaft auszeichnen nicht herstellen, sondern ist – umgekehrt – darauf angewiesen. Neu ist wohl die Tatsache, dass sich Konstellationen des Zugehörens rasch und entscheidend neu verändern oder neu zusammensetzen. So werden auch ausgeprägte Rollenhierarchien vereinbar mit partnerschaftlichem Geist oder Über- und Unterordnungsverhältnisse verbinden sich mit Teams, die nach egalitären Kriterien organisiert sind. Die neuen Facetten des «belongings» setzen aber grossen Wert auf Gerechtigkeitssinn und Wertschätzung. Letztlich geht es um eine gute Balance, die den Wert der multiplen Zugehörigkeiten gegen andere Werte des Selbst und der Gesellschaft von heute abwägt. Die Referentin hat dazu das Konzept der «biographischen Navigation» geprägt, das die Privilegierung der EGO-Perspektive umkehrt und Konzepte wie «kollektive Identität» und «Integration» in einem Möglichkeitsraum nahelegt. Allerdings sind solche Konzepte wie bei der Selbststeuerung voraussetzungsreich und entsprechend anspruchsvoll (Eigeninitiative, Vernetzung, Unterstützung, Kreativität) müssen aber stets als Möglichkeitsraum gedacht werden nach dem Motto von Paul Valery: «Mein Mögliches verlässt mich nie».
Ein Highlight bot der zweite Keynote des Neurowissenschafters Prof. Joachim Bauer (Freiburg). Die Forschung auf dem Gebiet der sozialen Neurowissenschaften ist inzwischen soweit, dass eindeutig nachgewiesen werden kann wie aus Psychologie Biologie wird. Der Einfluss von Geist, Sprache (soziale Interaktion) auf unsere Gene und das Hirn (Materie) ist verblüffend. Wir kennen das Phänomen wie Menschen durch ihre Tätigkeit körperlich gezeichnet werden («embodiement») was viel mit den neurobiologischen Motivationssystemen zu tun hat.
Genau diese Fragen konnte die neurowissenschaftliche Forschung der letzten Jahre klären, wie sich das Motivationssystem aktivieren lässt. Es handelt sich um ein Nervenzell-Netzwerk, das einen «Cocktail» von Botenstoffen herstellt (Dopamin, Opioide, Oxytozin). Dieses Motivationssystem wird gem. den Forschungsergebnissen am stärksten aktiviert durch soziale Anerkennung, Wertschätzung und das Erleben von Zugehörigkeit. Das Motivationssystem kann positiv durch Artikulation und «Gehört-Werden», sowie durch Fairness (Burnout-Forschung) aktiviert werden. Verweigerte Zugehörigkeit (Ausgrenzung) aktiviert die Schmerzzentren des Gehirns. Verausgabung ohne Wertschätzung macht krank.
Neben der Bedeutung der inneren Haltung verbunden mit einer guten Selbstfürsorge (Gesundheit) hat der Referent noch ein weiteres interessantes Resultat der Forschungsergebnisse beschrieben. Die sog. Führung durch Resonanz von der viel zu wenig Gebrauch gemacht wird, stattdessen dominieren Anweisung, Instruktion und Anleitung. Das menschliche Gehirn verfügt über neuronale Resonanzsysteme. Viele kennen das Phänomen aus dem Alltag. Handlungsmotivationen und Gefühlszustände können sich durch Sprache und Körpersprache auf Andere übertragen. Demnach werden Zustände aktivierter Motivation nicht nur dadurch vermittelt was Vorgesetzte sagen, sondern wie sie etwas sagen, wie sie auftreten und welche Signale sie mit ihrer Körperspracheauslösen. Diese These stützt indirekt die Arbeit des amerikanischen Changemanagement Experten, Dov Seidman, der das WIE zum kulturellen Credo einer Umsetzung von Veränderungen gemacht hat (HOW we do anything means everything).1
Schliesslich wies Bauer auch noch auf einige Aspekte von „Industrie 4.0“ hin wo die Robotik Einzug gehalten hat. Cyber Physical Production-Systeme (CPS) werden die Zukunft der Industrie bestimmen. Welche Auswirkungen ergeben sich für Beschäftigte die bloss noch als Assistenten von automatisierten Systemen dienen. Die Anforderungen an die Ausbildung und Konzentration wird zunehmen. Möglichkeiten, am Arbeitsplatz soziale Verbundenheit, Anerkennung und Wertschätzung zu erleben, werden vermutlich zurückgehen und sich in andere Lebensbereiche verlagern.
In dem Sinne werden in der zukünftigen Arbeitswelt wohl auch die Ambivalenzen und Paradoxien des Organisierens und Führens zunehmen, mit denen sich der dritte Keynote Speaker (Kurt Lüscher) befasste. Es geht um den Dauerbrenner der Balance zwischen Stabilität und Wandel, zwischen Re-Stabilisierung und Agilität. Man könnte auch sagen «entweder-oder» kombiniert mit «sowohl-als-auch». Wie geht dies zusammen? Wir kommen nicht darum herum dies alles immer wieder zur Sprache zu bringen, zu erkunden und zu bedenken.
Ein Panel und ein Workshop befassten sich denn auch mit dem Thema «Paradoxien».
Wie viel Agilität verträgt ein Unternehmen? Empirische Befunde zeigen, dass dauerhaft erfolgreiche Unternehmen ein Balance zwischen Stabilität und Wandel gefunden haben und kontinuierlich an ihrer Identität arbeiten. Langfristig erfolgreiche Unternehmen sind sowohl rapid adopters als auch champions in stability. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in revolutionärer Weise alles in Frage stellen, sondern permanent in Bewegung bleiben und sich eher evolutionär an sich verändernde Marktbedingungen anpassen. In diesem Sinne passt der Typus des «hybriden Professionals» in die agile Organisationsform. Jens Meissner befasste sich in einem Panel mit dem «Heimatverständnis hybrider Professionals» wo Wandel die einzige Konstante bleibt. Sein Beitrag lieferte Antwortfragmente zur übergreifenden Frage, was in modernen Berufsverständnissen genau unter Zugehörigkeit zu verstehen ist und welchen Stellenwert ein Heimat-Konzept für die Kooperationsbedingungen und Führungsanforderungen innerhalb neuer Formen der Arbeitsorganisation einnimmt. (Kapitel im Tagungsband)
Wie verhalte ich mich als Führungskraft in einer paradoxen Entscheidungssitution? Welche Interventionsmöglichkeiten stehen mir zur Verfügung? Es wurden Beispiele für Gelegenheiten zur Paradoxiebeobachtung präsentiert und drei Anwendungsbeispiele mit möglichen «Lösungen» behandelt. Schliesslich wurde auch noch auf das Tetralemma als „Werkzeug“ eingegangen (systemische Strukturaufstellung).
Fazit: Man kann der Paradoxie nicht „entkommen“ – dennoch muss damit gearbeitet werden.
Am zweiten Tag lag mein Fokus auf dem Thema Unternehmenskultur. Der englischsprachige Keynote des «amerikanischen» Engländers Richard Barrett zum Thema «Managing Performance by measuring culture» war zwar primär eine Marketing-Veranstaltung (my stories and my books), sein Konzept enthält aber ein paar brauchbare Tools, die dann in seinem Workshop vertieft werden konnten (www.valuescentre.com). Es geht im Kern um eine werteorientierte Unternehmensführung, die durch Anwendung der Barrett’schen Transformationstools angestrebt und verbessert wird (Self-assessments, teams, current status of organization und desired status). Aus meiner Sicht wird hier die Dynamik einer Organisation zwar gemessen, aber auf eine sozio-technische Art auf Werte komprimiert (Grad der kulturellen Entropie und der kulturellen «Gesundheit» einer Organisation), die das menschlich-individuelle Moment vermissen lässt. Wer steuert und lenkt denn in welcher Situation wie genau? Die Governance Frage wurde effektiv nicht explizit aufgeworfen, sodass man oft den Eindruck hat, dass die Organisationen von einer systemischen «invisible hand» gesteuert und gelenkt werden.
Welche sozialen Kompetenzen in welcher Art von Unternehmenskultur sind nun gefordert um zB die Herausforderungen einer komplexen Corporate Governance Initiative zu meistern, die immer auch verbunden ist mit einer Information Governance. Oder was passiert mit unserer Identität, wenn die Grosskonzerne Google und Facebook hundert verschiedene Merkmale unserer Person erheben, was die Erstellung eines persönlichen Profils ermöglicht. Wir können jederzeit Opfer eines Identitätsdiebstahls werden. Inwiefern steht dann unsere Existenz auf dem Spiel? Solche und ähnliche Fragen könnten Gegenstand von weiteren Changetagungen sein. Den auflockernden Abschluss der insgesamt guten Tagung machte der lokal in Basel verankerte Schriftsteller Alain Claude Sulzer mit einem Essay über die Spinne und sein Netz. Verbindung und Verbindlichkeit, Netzwerk und Verflechtung.
Im Sinne dieser Gedanken gab es schliesslich viele Gelegenheiten sich mit einem Teil der rund 270 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu vernetzen. 2020 (23.-24. Jan.) wird die nächste Changetagung stattfinden.
Der sorgfältig redigierte Tagungsband erschien wie immer pünktlich im Springer Gabler Verlag:
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Jürg Hagmann